12
Die Sonne warf ihr letztes Licht über die Halle von Earl’s Court durch das kleine Fenster und bildete ein goldgelbes Dreieck auf dem fleckigen Teppichboden. Willem lief die viereinhalb mal dreieinhalb Meter seines Zimmers ab. Es war bereits sechs Uhr durch. Nikita hatte sich telefonisch angekündigt. Willem war nervös. Der Tag der Entführung rückte näher. Und die Leichtigkeit, mit der Nikita und Pia das Unternehmen angingen, beunruhigte ihn vor allem deshalb, weil er sich sagte, dass die beiden damit Recht haben könnten. Es könnte alles tatsächlich einfach ablaufen, ohne Komplikationen. Was war schon eine Entführung? Man nahm jemanden in Gewahrsam, hielt ihn ein paar Tage fest, handelte ein Lösegeld und die Übergabe aus. Das war alles. Zudem ging es nur um ein Kind. Und Hewitt würde nicht die Polizei einschalten. Ganz sicher nicht.
Welche Komplikationen könnte es also geben? Willem fielen nur Lächerlichkeiten ein, die er Pia und Nikita noch entgegenhalten könnte: das Auto, das nicht anspringt, ein Müllwagen, der die Straße versperrt, eine zufällige Zeugin, die Zeter und Mordio schreit. Er musste alles versuchen, die Entführung zu verhindern, Anne-Marie zuliebe, unbedingt.
Willem sah erneut auf die Uhr. Nikita verspätete sich. Gott sei Dank. Auch wenn Nikita bald auftauchen sollte, wäre es in jedem Fall zu spät, ihm das Mädchen zu zeigen. Anne-Marie verließ in der Regel mit ihrer Tochter gegen halb sechs den Holland Park.
Bislang war alles nur ein Spiel gewesen, Anne-Marie und Patricia im Park zu beobachten, dem Range Rover zur Schule zu folgen, in Hewitts Antiquitätengeschäft zu gehen. Jetzt wurde aus dem Spiel ernst. Er hatte Angst.
Es klingelte. Willem drückte auf den Türöffner. Er hörte Nikitas schwere Schritte auf der Treppe. Dann stand Nikita in ganzer Größe vor ihm, füllte mit seinen breiten Schultern fast den Türrahmen aus. Willem stand stumm da. Nikita umarmte ihn, drückte ihn an sich.
»Tut mir Leid, mein Freund.«
Willem bekam kaum Luft. Auch berührte ihn peinlich die körperliche Nähe. Verrückter Russe! Er machte sich frei.
»Es hat wenig Sinn, jetzt noch zum Holland Park zu fahren. Die Hewitts werden bereits zu Hause ein.«
»Tut mir wirklich Leid. Aber ich hatte noch einen Job zu erledigen. Noch haben wir nicht das Geld. Und du weißt, wie der Verkehr um diese Zeit ist.«
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Willem fast erleichtert.
»Lass uns trotzdem fahren! Zeig mir die Schule und das Haus. Das Kind zeigst du mir morgen.«
Willem zögerte. Aber er wusste nicht, wie er sich herausreden konnte. Er gab sich einverstanden.
Nikita war mit einem weißen Kastenwagen da. Zwar gehöre der Wagen seinem Freund Michail, erklärte Nikita, aber er könne ihn jederzeit benutzen.
»Unser Firmenwagen«, meinte er mit einem gewissen Stolz.
Der Rost hatte sich schon kräftig in die Türen gefressen. Innen sah der Wagen wie Nikitas Küche aus, voll mit leeren Dosen, Zigarettenkippen und Essensresten. Im Laderaum rappelten Werkzeugkisten.
Auf der Warwick Road, die am Earl’s Court Exhibition Center vorbeiführte, kamen sie nur im Schritttempo voran. Aber es gab keine andere Möglichkeit, um zum Holland Park zu gelangen. Auf den anderen Straßen sah es um diese Tageszeit nicht besser aus. Nikita und Willem schwiegen eine Weile. Willem beobachtete die Leute, die eilig den Hinterausgang der U-Bahn-Station Earl’s Court verließen, um möglichst schnell nach Hause zu gelangen. In den meisten Fällen war ihr Zuhause kaum größer als Willems Appartement oder ein Zimmer in einer schäbigen Wohnung, die sie sich wegen der horrenden Mieten in London teilen mussten.
Die anderen Autofahrer klemmten angespannt hinter dem Lenkrad. Manche hupten, weil sie ihrem Vordermann die Schuld an dem Stau gaben. Willem konnte nicht verstehen, warum sich die meisten Londoner Tag für Tag dieser Tortur aussetzten, sich morgens durch verstopfte Straßen und in überfüllten U-Bahnen in irgendein Büro quälten und abends auf die gleiche Weise zurück. Mit dem Zug ging es nicht besser. Viele Pendler nahmen eine Anfahrt von über zwei Stunden in Kauf. Konnte man wirklich nicht sein Geld anders verdienen?
Nikita blieb angesichts des Chaos gelassen. Er lenkte spielerisch mit einer Hand den Wagen und trommelte gedankenverloren mit der anderen von außen auf das Dach.
Willem unterbrach das Schweigen.
»Freust du dich auf Spanien? Du wirst doch mit Pia nach Spanien gehen?«
»Klar gehe ich mit Pia nach Spanien. Muss toll da sein, Wein, Sonne, Meer.«
»Du bist noch nie in Spanien gewesen?«
»Nein, noch nicht. Weißt du, ich würde mit Pia überall hingehen. Ich bin wirklich verknallt in die Kleine. Ich würde wirklich alles für sie tun. Und Pia muss weg von hier. London ist kein Leben für sie. Jede Nacht Table-Dance ist kein toller Job.«
»Ich wünsche euch viel Glück.«
»Du musst uns besuchen kommen, kannst in unserem Hotel umsonst wohnen. Übrigens, Pia soll noch ein paar hübsche Schwestern haben. Jedenfalls, Hände weg von meiner Pia!«
Nikita lachte etwas krampfhaft. Willem lachte auch. Er war sich aber nicht sicher, ob Nikita nicht doch ernsthaft eifersüchtig war.
»Mach ich. Versprochen!«
Allein um durch die Warwick Road durchzukommen, hatten sie zwanzig Minuten gebraucht. Er empfahl Nikita, rechts in die Kensington High Street einzubiegen. Das eine Mal, als Willem mit seinem Mercedes zu den Hewitts gefahren war, hatte er den ganzen Holland Park umfahren müssen. Jetzt ärgerte er sich, dass er Nikita über einen kürzeren Weg dirigierte.
»Hier bitte links!«, sagte Willem, als sie Phillimore Gardens erreichten.
Nikita fuhr langsam die elegante Straße hinauf. Von den weißen, in der untergehenden Sonne leicht glänzenden Häusern war Nikita sichtlich beeindruckt.
»Stinkvornehme Gegend! Toll!«
»Hier links, das ist das Haus der Hewitts. Der blaue Range Rover und der silberne BMW gehören ihnen.«
»Nicht schlecht! Willem, du hast die richtigen Leute ausgesucht!«
Am Ende der Straße, genau dort, wo der Weg in den Holland Park führte, kam ihnen ein kleines Mädchen mit einem Hund entgegen. Patricia! Willem lehnte seinen Kopf zum Fenster hinaus und sah ihr nach.
»Was ist denn los, Willem?«
»Da ist sie! Das ist die Tochter der Hewitts!«
Nikita trat voll in die Bremsen, legte ruckartig den Rückwärtsgang ein.
»Was hast du vor, Nikita? Du kannst nicht rückwärts die Straße runterrasen.«
»Komm! Wir schnappen uns jetzt die Kleine!«
»Nein! Nein!«, schrie Willem und merkte, dass er Nikitas Arm fest umklammerte.
Nikita bremste abrupt, sah Willem zornig an, die Lippen fest zusammengepresst. Seine Augen schienen noch tiefer zu liegen, sein Blick noch stechender als sonst. Mit einer Armbewegung machte er sich von Willem frei und versetzte ihm mit dem Ellbogen einen kurzen, aber heftigen Schlag gegen den Brustkorb. Willem konnte kaum atmen. Gierig rang er nach Luft und sah entsetzt zu Nikita hinüber.
Doch Nikita setzte wieder den Wagen nach vorne in Bewegung, als ob nichts geschehen wäre. Er sagte kein Wort.
»Entschuldigung! Aber wir können doch nicht einfach… Jetzt doch nicht! Noch nicht«, versuchte sich Willem mühsam zu erklären.
»Das wäre unsere Chance gewesen, du Idiot. Ich hoffe für dich, dass das nicht unsere letzte Chance war«, schrie Nikita los.
Willem wagte nichts zu sagen. Wieder schwiegen beide, während Nikita den Wagen durch den dichten Verkehr steuerte. Sein Kopf dröhnte, seine Brust schmerzte, aber er dachte an nichts. Er spürte nur, er hatte Angst, Angst vor Nikita.
Erst als sie South Kensington erreichten, hatte er sich wieder gefangen.
»Ich kann dir ja noch die Schule zeigen. Falls wir sie am Haus oder am Holland Park nicht zu fassen kriegen, können wir es vielleicht an der Schule versuchen«, sagte Willem in versöhnlichem Ton.
Nikita antwortete nicht, bog aber Willems Anweisung folgend in die Clareville Street ein.
»Dort ist die Schule.«
Ohne anzuhalten, durchfuhr Nikita die Gasse und bog rechts Richtung Earl’s Court ab, um Willem zu Hause abzusetzen.
»Kann ich dich noch auf ein Bier einladen?«
Willem wollte nicht, dass sie in angespannter Stimmung auseinander gingen.
»Das kannst du.«
»Dann bieg hier links ab.«
Willem dirigierte Nikita zur Fulham Road. Gleich gegenüber dem Krankenhaus lag das »Finch«, eins seiner bevorzugten Pubs in der Gegend. Nikita stellte den rostigen Lieferwagen in der nächsten Seitenstraße ab. Im »Finch« war nicht viel los. Es war eben Montagabend. Das war ihm nur recht. Er bestellte zwei Pints Lager.
»Cheers!« Willem schaute zu Nikita auf. »Du bist mir doch nicht böse wegen der Sache im Auto?«
»Schon vergessen«, sagte Nikita lächelnd. »Du hattest ganz Recht. Pia ist tanzen. Und was hätten wir mit der Kleinen die halbe Nacht machen sollen? Aber irgendwann müssen wir die Sache zu einem Ende bringen. Klar?«
Willem nickte. Nikita gab ihm noch den Auftrag, am nächsten Abend am Haus der Hewitts vorbeizuschauen, ob Patricia wieder allein mit ihrem Golden Retriever spazieren ging.
»Falls nicht, lassen wir uns etwas anderes einfallen. Aber es bleibt in jedem Fall bei nächstem Montag. Am Wochenende treffen wir uns wieder. Dann können wir die ganze Geschichte noch mal von A bis Z durchgehen.«
Eine Woche also noch, dachte Willem. Hoffentlich Zeit genug, alles zu verhindern. Fast ohne ein Wort tranken sie ein zweites Bier.